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Freiwilligengruooe in Rezina, Republik Moldau

Reisebericht aus Moldawien - Oktober 2022

Im Oktober 2022 reiste unsere Projektreferentin Meike Naujoks in die Republik Moldau. Was sie vor Ort erlebte, schildert sie in ihrem Reisetagebuch.

Reisetagebuch aus Moldawien

von Meike Naujoks

Samstag, 14. Oktober 2022

Wie in vielen Ländern des globalen Südens ist die Armut in der Bevölkerung der Republik Moldau auf den ersten Blick nicht erkennbar: Ein moderner Flughafen, ausgebaute Straßen und ein gut organisierter Transport ins Zentrum der Hauptstadt Chisinau in einem komfortablen Auto. Ich komme gegen Abend in Moldawien an - im Zentrum der Stadt wird noch gefeiert: Am gestrigen Freitag, den 14. Oktober, war der sogenannte „Chisinau Day“, so etwas wie der Geburtstag der Hauptstadt, und die Festlichkeiten dauern bis heute an. Ich bin in einem zentralen Hotel untergebracht. An der Rezeption beobachte ich, wie eine Mitarbeiterin des Hotels ein paar Gäste berät. „Sie sind aus der Ukraine“, flüstert mir meine Kollegin Tatiana Sorocan zu, Direktorin des HelpAge Büros in der Republik Moldau. „Nur sehr wenige von ihnen können sich ein Hotel noch leisten“, ergänzt sie. Meine moldawische Kollegin spricht, wie viele Moldawier*innen, vor allem Russisch und Rumänisch. Dadurch ist die Verständigung mit den Menschen aus der Ukraine einfacher, die in Moldau nach Schutz suchen. Auch vor meiner Reise haben wir schon oft darüber gesprochen, wie das Alter und die soziale Herkunft sich auf die Fluchtbewegungen auswirken und den Zugang zu Hilfsmaßnahmen beeinflussen. Die Geflüchteten, die im Hotel direkt vor mir eincheckten, benötigten keine Unterstützung von Hilfsorganisationen – hoffentlich bleibt es so.

Sonntag, 15. Oktober 2022

Es ist Sonntag und das ganze moldawische EZ-Team (EZ ist die Abkürzung für Entwicklungszusammenarbeit) kommt zusammen, um gemeinsam mit mir das aktuell laufende Projekt zu reflektieren. Die Kolleg*innen haben sich gut vorbereitet und wir kommen schnell voran. Diese Arbeit ist extrem wichtig für uns, weil wir so Erfahrungen austauschen und weitere Schlüsse für die Projektarbeit ziehen können. Außerdem ist diese Reflexion eine wichtige Vorbereitung für die anstehenden Besuche in den Projektregionen, die auf meiner Reise noch anstehen.

Bisher haben das moldawische Team und ich uns nur digital getroffen. Online hatte ich noch nicht alle Mitarbeitenden des Büros kennenlernen können - jetzt sitzen wir gemeinsam an einem großen Tisch und tauschen uns aus. Dabei besprechen wir auch Themen und Fragen, die in den digitalen Austauschrunden nicht detailliert besprochen werden können. Schnell bestätigt sich mein bisheriger Eindruck vom Team: Alle sind hoch motiviert, arbeiten intensiv, sind emphatisch und sehr respektvoll, bringen ihre Stärken ein und scheuen keine Extraarbeiten, um sich gegenseitig in ihren Aufgabenbereichen zu unterstützen. Wirklich ein tolles Team. In dem aktuellen Projekt geht es um den Auf- und Ausbau von Schutzmaßnahmen vor häuslicher Gewalt sowie humanitäre Hilfsleistungen für Geflüchtete aus der Ukraine - solch eine intensive Arbeit braucht eben genau solch ein starkes Team, das hier gerade gemeinsam mit mir sitzt. Nur zusammen können sie die umfangreichen Aufgaben in der aktuellen Qualität umsetzen, von der ich mich bei den anschließenden Feldbesuchen überzeugen konnte.

Foto: Meike und das EZ-Team von HelpAge International Moldawien

Montag, 16. Oktober 2022

Das Krisenzentrum in Drochia existiert bereits seit 17 Jahren. Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, finden dort Schutz und Zuflucht. Im Krisenzentrum arbeiten u.a. Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen, die den betroffenen Frauen beistehen und auch eng mit der Polizei und der Justiz kooperieren. Bis zu 20 Frauen können vor Ort untergebracht werden, in der Regel für einen Zeitraum von etwa drei Monaten. Über das Zentrum hinaus sind auch mobile Beratungsteam in Drochia im Einsatz. Sie helfen und beraten diejenigen, die nicht zum Zentrum kommen können, und unterstützen sie, ein möglichst gewaltfreies Leben zu führen.

Obwohl ältere Frauen einem höheren Risiko durch häusliche Gewalt ausgesetzt sind (etwa durch Lebenspartner, Kinder oder auch Pflegepersonal), wurden in der Vergangenheit auffällig wenig Frauen über 60 Jahre in Drochia begleitet. Der Direktor des Krisenzentrums war aus diesem Grund sehr glücklich, als mit der Unterstützung von HelpAge auch diese Zielgruppe in die Reichweite des Zentrums aufgenommen werden konnte. Das liegt mitunter an der physischen Renovierung des Zentrums, das nun barrierefrei zugänglich ist und mit Hilfmitteln wie Gehstöcken, Rollatoren und Handläufen ausgestattet wurde. Gleichzeitig hat HelpAge dabei geholfen, die Mitarbeitenden des Zentrums und auch wichtige Schlüsselpersonen außerhalb des Zentrums (z.B. externe Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen und Richter*innen) über die Risiken und Hilfsbedarfe älterer Menschen aufzuklären und weiterzubilden.

Aktuell werden sechs ältere Frauen durch die Arbeit des Zentrums dauerhaft unterstützt. Diese Zahl klingt zwar vergleichsweise niedrig, zeigt aber, dass ältere Frauen nun überhaupt erreicht werden. Der erste Schritt ist damit gemacht, um Frauen jeden Alters Hilfe anbieten zu können, eben auch älteren. Insgesamt leistet das Krisenzentrum in Dochia einen sehr wichtigen Beitrag für die Stärkung von Frauen, indem sie über Rechte informieren und Schutz bieten. Zudem werden Systeme etabliert, welche die Frauen auch außerhalb des Zentrums im Alltag unterstützen - zur Prävention häuslicher Gewalt, zur Befreiung aus gewalttätigen Beziehungen und auch zur anschließenden Bewältigung des Erlebten.

Foto: Gruppenfoto vor dem Frauenhaus, das Dank der Umbaumaßnahmen nur über eine Rampe barrierefrei zugänglich ist.

In Drochia gibt es auch ein "Refugee Accomodation Center", also eine Flüchtlingsunterkunft, die von dem 34-jährigen Marin geleitet wird. Als wir dort ankommen, treffe ich Raisa und Ana. Die beiden sind bereits seit April 2022 bei Marin untergekommen. "Er ist so jung, aber er kümmert sich um uns wie ein Vater", erzählt Raisa. Sie haben alles, was sie benötigen, erklären sie mir, aber eigentlich wollen sie doch nur nach Hause. Raisa ist mit ihren zwei Töchtern hier. Die eine nimmt im Nebenzimmer gerade an einem Onlineseminar der Universität in Kiew, in der Ukraine, teil. Ihre andere Tochter hat als Feldarbeiterin eine Anstellung in der Gegend gefunden. „Es ist gut, dass sie etwas tun können“, erklärt mir Raisa.

Ana und Raisa sind sehr dankbar für all die Hilfe, die sie seit ihrer Flucht nach Moldau erfahren haben, und wiederholen dies immer wieder. Deutlich wird aber auch, dass sie ihre Heimat vermissen und sich eine Rückkehr nach Hause so sehr wünschen. Doch zurzeit ist das nicht möglich. Mit der Unterstützung von HelpAge wurden in der Unterkunft Nahrungsmittel, Hygieneartikel und Alltagsgegenstände angeschafft, wie etwa Spiele zur Beschäftigung. Die Frauen haben einen privaten Schlafraum, können in der Küche selber kochen und unterstützen sich gegenseitig. Wir verabschieden uns mit der Hoffnung, dass der Krieg bald enden wird und sie nach Hause können. Die Einsamkeit und der Frust über die Machtlosigkeit und Langeweile stehen ihnen ins Gesicht geschrieben.

Foto: In verschiedenen Sprachen wird klargestellt, dass die geflüchteten Ukrainer*innen vor Ort die Hilfe bekommen, die sie benötigen.

Dienstag, 17. Oktober 2022

Wir fahren weiter nach Rezina, wo wir eine der freiwilligen Gruppen treffen, welche die Arbeit von HelpAge unterstützen. Ich werde von einer Gruppe Frauen empfangen, von jung bis alt. „Wir haben auch fünf Männer in unserer Gruppe, aber die sind schon gegangen“, erklärt mir Larissa. Sie zeigt mir die soziale Kleidungskammer, die sie aufgebaut haben. Sie sammeln Kleiderspenden, waschen und verteilen sie in ihrer Gemeinde an diejenigen, die Unterstützung benötigen. Es ist ein lebhafter Austausch, wir trinken Tee, essen „Placinta“ (ein Nationalgericht: gefüllte Teigtaschen) und lachen trotz der herausfordernden Lage viel - ich etwas zeitversetzt, weil meine Kollegin mit dem Übersetzen kaum hinterherkommt. Die Frauen erklären mir, wie wichtig der Zusammenhalt ist und dass die Treffen helfen, um sich auszutauschen und zu organisieren. Gemeinsam planen und realisieren sie Aktionen, um ältere Menschen in ihrer Gemeinde zu unterstützen. Sie helfen ihnen bei den Arbeiten im Garten und im Haus, organisieren Zusammenkünfte, um sich gemeinsam zu bewegen, Essen zu kochen oder andere gesellschaftliche Aktivitäten zu machen. Sie organisieren auch Medikamente oder den Besuch eines Arztes (was allerdings ziemlich schwierig ist). Ein aktuelles Problem, so erklären mir die Frauen, sind die Heizkosten. Das Holz, mit dem die meisten heizen, ist zu teuer geworden und schwer verfügbar. Im Verlauf wird auch der Bürgermeister von Rezina zum Treffen dazu geholt. Er will helfen, verspricht er – die Frauen erscheinen mir skeptisch, aber sie lassen sich die gute Laune nicht verderben. Ein großer Zusammenhalt und die Bereitschaft, einander beizustehen, sind spürbar.

Freiwilligengruooe in Rezina, Republik Moldau

Für unsere Arbeit in den Projektregionen ist das Engagement solcher Freiwilligengruppen besonders wichtig. Sie kennen sich in ihren Gemeinden aus und können Kontakte herstellen. Sie sehen, wo welche Hilfe benötigt wird und werden deshalb eng in die Projektaktivitäten eingebunden. Gleichzeitig tragen sie dazu bei, dass die Hilfsmaßnahmen vor Ort verankert werden und somit lange wirken können, auch über die Projektlaufzeit selbst hinaus. In der Vergangenheit haben die Gruppen bereits geholfen, ältere Frauen für unsere Projekte auszuwählen, welche dann Unterstützung bei dem Aufbau zusätzlicher Einnahmequellen zu ihrer kleinen Rente erhalten. Einige Frauen haben Gewächshäuser bekommen, andere Material um Handarbeitswaren herzustellen (z.B. Teppiche oder Kunsthandwerk). Die Freiwilligengruppen begleiten die Projektteilnehmerinnen dauerhaft und geben ihnen Ratschläge und Tipps, etwa um ihre Ernte zu erhöhen oder bessere Verkaufsmöglichkeiten für Gemüse oder die hergestellten Produkte zu finden. Ich habe zwei Frauen getroffen, die in dieser Form begleitet werden.

Foto: Die Freiwilligengruppe von Rezina

Nadja

Nadja ist seit einigen Jahren verwitwet und lebt nun allein. Sie erklärt mir, dass sie gar nicht weiß, wie sie eigentlich in dieses Projekt aufgenommen wurde. Sie hatte nicht geglaubt, dass sie irgendeine Hilfe bekommt - nun erhält sie Material, um Kunsthandwerk herzustellen. „Ich bin beschäftigt“, erklärt sie mir und zeigt mir ihre Arbeiten: schmuckvolle Bilder, in denen Stoff mit kleinen Perlen bestickt wurde. Sie erläutert, dass die Handarbeit ihr Freude bereitet und sie fit hält, weil der Umgang mit den kleinen Perlen sehr anspruchsvoll ist. Über das Projekt hat sie nicht nur das Material bekommen, sondern auch den Anschluss zu Personen gefunden, die ebenfalls am Projekt beteiligt sind. Nadja weint, bedankt sich bei mir und schenkt mir Blumen. Für mich ist es etwas unangenehm – vertrete ich doch nur das Engagement von so vielen Menschen, die dieses Projekt möglich machen. Also reiche ich diesen Dank weiter: Im Namen von Nadja, die symbolisch für viele Begünstigte steht, möchte ich allen Beteiligten danken und sie dazu motivieren, an ihrem Engagement festzuhalten. Denn Nadja hat mir gezeigt, dass sich ihre Lebensqualität durch das Projekt verbessert hat.

Teodora

Teodora hat durch das Projekt ein Gewächshaus für ihren Garten bekommen, in dem sie nun Tomaten anpflanzt. Außerdem hat sie Hühner gekauft und außerhalb des Gewächshauses noch weitere Gemüsesorten angepflanzt. Insgesamt kann sie sich damit gut selbst versorgen. Überschüsse kann sie verkaufen, um ihre Rente aufzubessern. Nachdem Teodora mir ihre Tiere und ihren Garten gezeigt und auch sie sich mehrfach bedankt hat, verlassen wir ihr Grundstück. Meine Begleiterinnen klären mich auf: Teodora ist Opfer häuslicher Gewalt. Sie und ihr Mann nehmen im Rahmen des Prokjektes eine Beratung in Anspruch, die neben dem ausgebildeten Beratungsteam auch von den Freiwilligen unterstützt wird. Durch das Gewächshaus und die selbsterwirtschafteten Einkünfte hat Teodora für sich einen eigenen Raum schaffen können, in den sie sich zurück zieht, wenn sie Sorge vor einem Angriff ihres Mannes hat. Es ist ihr Raum, der ihr Sicherheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ermöglicht. Teodora ist sehr dankbar für die Unterstützung und hofft, dass die Hilfe künftig noch mehr Frauen erreichen wird.

Meine Reise führt mich zuletzt noch in eine weitere Flüchtlingsunterkunft, in der Nähe der Stadt Chisinau. Dort haben wir über das Projekt einen Sozialraum eingerichtet, in dem sich Bewohner*innen treffen und untereinander austauschen können. Tagsüber ist eine Sozialassistenz anwesend, die gemeinsam mit den Bewohnenden Freizeitaktivitäten organisiert und dabei unterstützt, das Erlebte zu reflektieren und zu verarbeiten.

In der Unterkunft treffe ich eine Gruppe von fünf Frauen. Es ist eine sehr emotionale Begegnung, in unserer Unterhaltung findet ein stetiger Wechsel zwischen Lachen und Weinen statt. Die Frauen erzählen mir von ihrer Flucht, ihren Familien, die zum Teil noch in der Ukraine sind, und von ihrem größten Wunsch: „Wenn doch nur der Krieg aufhört, dann laufen wir nach Hause. Dann brauchen wir nichts mehr, wir laufen einfach los – nach Hause...“, erklären sie mir immer und immer wieder. Die Frauen erzählen mir auch von den Gesellschaftsspielen, die sie gemeinsam spielen, um sich abzulenken, von den Gesprächen mit den Sozialarbeiter*innen und davon, wie ihnen der Zusammenhalt und die gemeinsamen Gespräche helfen, den Alltag zu bewältigen. Privat verbindet uns auch das „Mutter sein“ und wir erzählen uns von unseren Kindern – ein Gefühl der Glückseligkeit liegt im Raum. Alle lachen, bis die Realität die Leichtigkeit erneut verdrängt: „Ich warte auf eine Nachricht von meiner Nichte. Es gab vor einer Stunde einen Bombenalarm [in der Nähe von Odessa]. Sie ist allein in der Wohnung, weil meine Schwester zur Arbeit gegangen ist. Sie hat sich versteckt. Sie meldet sich…“ – erneut fließen Tränen.

Foto: Kollegin Meike Naujoks im Gespräch mit ukrainischen Geflüchteten.

Schon nach wenigen Tagen reise ich zurück nach Deutschland. Im Gepäck habe ich ein starkes Gefühl der Bestätigung, dass unsere Arbeit in der Republik Moldau wichtige Früchte trägt und wir diese weiterhin fortsetzen und ausbauen müssen. Ich habe tolle Menschen und vor allem starke Frauen in diesem wunderschönen Land getroffen, dessen Menschen und Kultur ich gerne eines Tages touristisch kennenlernen würde. Ich habe viele Geschichten aus der Ukraine gehört und hoffe, dass wir unsere Aktivitäten auch dort fortsetzten können, dass sich die aktuellen Nothilfemaßnahmen bald zu Wiederaufbaumaßnahmen umwandeln lassen und dass wir ausreichend Mittel aufbringen können, um diesen Prozess zu unterstützen. Ich fliege zurück, in mein sicheres, privilegiertes Leben und frage mich, ob meine Kolleg*innen in der Ukraine an unserem nächsten geplanten Meeting teilnehmen können. Das letzte Mal hat es nicht funktioniert, denn der Strom war mal wieder ausgefallen.

Ihre Ansprechperson

Meike Naujoks

Projektreferentin