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"Alle, mit denen ich spreche, wollen nach Hause"

Im Gespräch: Tatiana Sorocan, Länderdirektorin von HelpAge Moldawien

"Alle, mit denen ich spreche, wollen nach Hause"

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine ist die Republik Moldau (Moldawien) zum Aufnahmeland für Zehntausende Menschen aus dem Nachbarland geworden. Gemessen an der Einwohnerzahl hat die Republik Moldau sogar die meisten Geflüchteten aufgenommen – trotz großer Hilfsbereitschaft eine große Herausforderung für die Bevölkerung. Das Land gilt als das ärmste Europas.  

Im September war Tatiana Sorocan, Länderdirektorin von HelpAge in Moldawien, zu Besuch in Deutschland und berichtete von der Arbeit, die HelpAge vor Ort leistet. Ein Weg ihrer Reise führte sie nach Bonn zu dem Hilfsbündnis 'Aktion Deutschland hilft', in dem HelpAge seit vielen Jahren aktiv ist. In einem Interview schilderte Tatiana, wie die Hilfe für ältere Menschen konkret aussieht. 

Aktion Deutschland Hilft: Mehr als 94.000 Geflüchtete aus der Ukraine sind in der Republik Moldau registriert. Wie geht es den Menschen im Moment? 

Tatiana Sorocan: Viele Menschen sind besorgt angesichts der anstehenden Wintermonate und der aktuellen Angriffe in der Ukraine. Zuletzt war die Zahl der Geflüchteten in der Republik Moldau relativ stabil. Und immer mehr hatten gehofft, bald in ihre Heimat zurückkehren zu können. 

Wir rechnen nun damit, dass wieder mehr Menschen Zuflucht in Nachbarländern suchen. Von Anfang an kamen in die Republik Moldau viele Geflüchtete aus dem nahen Odessa – einer Stadt am Schwarzen Meer, die im Konflikt als strategisch wichtig gilt.

Foto: Tatiana Sorocan, Countrydirector HelpAge International Moldova

Copyright: Kai Ostermann | www.bildgewandt.de

Bei HelpAge haben Sie vor allem die Bedürfnisse älterer Menschen im Blick. Was unterscheidet diese Gruppe von anderen? 

Es wird geschätzt, dass es unter den Geflüchteten in der Republik Moldau 13.500 Menschen gibt, die 65 und älter sind. Um mehr über ihre Bedürfnisse zu erfahren und entsprechend reagieren zu können, haben wir fast 500 Frauen und Männer befragt. 

Daraus ging unter anderem hervor: 82 Prozent der Befragten haben gesundheitliche Probleme wie Bluthochdruck oder Diabetes. Außerdem leben viele ältere Menschen mit Behinderungen: Sie sind in ihrer Mobilität eingeschränkt, haben Schwierigkeiten beim Sehen, Hören, Sprechen oder leiden an Demenzerkrankungen. Sie sind vor allem bei Verwandten oder Bekannten untergekommen. Nur wenige können sich Mieten oder Hotels leisten. 

Was benötigen die Menschen am dringendsten? 

Bei unserer Umfrage gaben 65 Prozent der Menschen an, vor allem Bargeld zu benötigen. So können sie sich das finanzieren, was sie am akutesten benötigen. Bei den aktuellen Preisen schwinden die Ersparnisse der Menschen. Die Inflationsrate in der Republik Moldau liegt zurzeit bei über 30 Prozent – wir waren immer stark abhängig von der Ukraine und Russland. 

Neben Kleidung und Schuhen sind viele Menschen auf Medikamente und medizinische Versorgung angewiesen. Wir wissen, dass sich bestehende gesundheitliche Beschwerden bei Menschen in Krisengebieten oder auf der Flucht oft verstärken: Die physische Belastung und der mentale Stress sind hoch. 

Die tägliche Routine ist weg, Medikamente können nicht mehr wie gewohnt eingenommen werden oder sind schwer zu bekommen. Auch nötige Untersuchungen oder Check-ups sind nicht mehr möglich, weil es keine funktionierende Gesundheitsversorgung oder zu wenige Ärzte in der Nähe gibt oder schwer zu erreichen sind. 

Was ist mit psychosozialer Hilfe? 

Die Nachfrage steigt – und das, obwohl es weder in der Republik Moldau noch in der Ukraine üblich ist, sich Hilfe dieser Form zu suchen. 

Depression, Isolation und Heimweh sind häufige Probleme. Egal, mit wem ich gesprochen habe: Für alle steht fest, dass sie in die Ukraine zurückwollen. Viele Frauen und Männer sind von ihren Familien getrennt, die dort geblieben sind. Häufig haben die Geflüchteten ein schlechtes Gewissen oder machen sich Vorwürfe. 

Wir haben Hotlines geschaffen, wo sich die Menschen telefonisch beraten lassen und im Gespräch lernen können, die aktuelle Situation besser zu akzeptieren. Es gibt soziale Treffpunkte, an denen sie sich in Gruppen über die Erlebnisse der vergangenen Monate austauschen können. Und wir verteilen zum Beispiel Karten, mit denen die Menschen das Internet nutzen und Kontakt zu ihren Lieben halten können.

Eine ältere Frau in der Ukraine erzählt einer Mitarbeiterin von HelpAge, was sie benötigt.

Wie blicken Sie auf die kommenden Monate? 

Wir bereiten uns seit längerem auf die Winterhilfe vor. Nahrungsmittel- und Bargeldhilfen werden angesichts der knappen Ressourcen und steigenden Preise sehr wichtig sein. Das betrifft natürlich nicht nur die Menschen, die aus der Ukraine zu uns geflohen sind. 

Innerhalb der moldawischen Bevölkerung war stets große Solidarität gegenüber den Geflüchteten zu spüren. Wenn jetzt aber nur Geflüchtete Unterstützung erhalten, könnte diese Ungleichbehandlung zu Spannungen führen. 

HelpAge hilft deshalb auch älteren Menschen aus der Republik Moldau, die in einer schwierigen finanziellen Lage sind und dadurch ebenfalls auf Hilfe angewiesen sind. Darauf achten wir allgemein stark, aber insbesondere im kommenden Winter. Dieser wird wegen der hohen Kosten für alle herausfordernd werden wird.

Copyright Foto: Alberto Lores | HelpAge International

Ihre Ansprechpersonen

Sonja Birnbaum

Geschäftsführerin

Meike Naujoks

Projektreferentin