Seit vielen Jahren spielt sich in Venezuela eine Staatskrise ab, die hierzulande wenig Beachtung findet. Wir sprachen mit Dr. Javier Manrique, Mitarbeiter unserer lokalen Partnerorganisation Convite und studierter Arzt, über die Situation in seinem Heimatland und unsere Arbeit zugunsten älterer Menschen.

“Die Situation älterer Menschen in Venezuela ist äußerst prekär“ – Interview mit humanitärem Helfer Javier Manrique
22.09.2025
Venezuela – eine vergessene Krise
Die humanitäre Krise in Venezuela spitzt sich immer weiter zu. Über 7,6 Millionen hilfesuchende Menschen aus dem südamerikanischen Land sind auf der Flucht – und damit mehr als in Afghanistan, Syrien oder der Ukraine. Inzwischen stellen Venezolaner*innen mehr Asylanträge in der EU als Menschen aus anderen Ländern, wie die EU-Asylagentur kürzlich mitteilte.
Doch warum fliehen die Menschen? Das südamerikanische Land steckt seit Jahren in politischen und wirtschaftlichen Dauerkrisen. Eine Hyperinflation, der Mangel an Nahrungsmitteln und der Zusammenbruch des Gesundheitssystems sind nur einige Faktoren, die die Menschen zur Flucht zwingen.

Im Gespräch mit Dr. Javier Manrique
Über die Situation in Venezuela wird hierzulande wenig berichtet. HelpAge unterstützt seit 2023 zusammen mit unserer lokalen Partnerorganisation Convite venezolanische Geflüchtete und Mitglieder ihrer kolumbianischen Aufnahmegemeinden. Wir konnten mit Dr. Javier Manrique sprechen. Dr. Manrique ist Mitarbeiter von Convite und studierter Arzt. Wir hatten die Gelegenheit, mit ihm über die Situation in seinem Heimatland und die Arbeit von HelpAge vor Ort zu sprechen.
„Leider bleiben ältere Menschen oft allein zurück“
HelpAge: Herr Dr. Manrique, Sie sind Arzt und humanitärer Helfer bei Convite, einer Partnerorganisation von HelpAge. Was hat Sie dazu bewegt, sich für Menschen in Not einzusetzen? Was haben Sie vor Ihrer Arbeit bei Convite gemacht?
Dr. Javier Manrique: Es war schon seit langem ein Traum von mir im Bereich der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit zu arbeiten. Bereits während meines Medizinstudiums erlebte ich menschliches Leid hautnah. Ich glaube fest daran, dass es der Kern des ärztlichen Berufsstands ist, Zeit und Energie aufzuwenden, um anderen zu helfen und ihnen Linderung in ihrem Leiden zu verschaffen. Ganz konkret war für meine Berufswahl aber entscheidend, dass in meinem engsten Familienkreis mehrere Personen an Nierenversagen litten. Erlebt man so etwas unmittelbar mit, muss man einfach aktiv werden, Wissen und Expertise erwerben und versuchen, seinen Liebsten wie auch anderen Menschen bei ihrem Leiden zu helfen. Wenn wir alle ein wenig Zeit aufbringen würden anderen zu helfen, die Welt wäre eine andere! Bevor ich bei Convite anfing, habe ich etwa 25 Jahre meines Lebens damit verbracht, meine Patient*innen, vor allem ältere Menschen, zu versorgen.
HelpAge: Sie stammen selbst aus Venezuela. Haben Sie eigene Erfahrungen mit Flucht oder Vertreibung gemacht?
Dr. Javier Manrique: Im vergangenen Jahr musste ich aufgrund sicherheitstechnischer Bedenken meine Heimat gegen meinen Willen für etwa drei Monate verlassen. Das war eine wirklich schwere Zeit für mich: Mir fehlte es zwar an nichts – mir ist bewusst, dass das ein Segen und keinesfalls der Normalfall ist – aber das Gefühl nicht sicher zu sein, mich nicht frei bewegen zu können und getrennt von meiner Familie zu sein, hat mir schwer zugesetzt und seelische Narben hinterlassen. Diese Erfahrung hat mir aber auch geholfen, die Situation meiner geflüchteten venezolanischen Landsleute noch besser zu verstehen.
HelpAge: Was sind die wichtigsten Gründe dafür, dass so viele Venezolanerinnen und Venezolaner seit Jahren ihr Land verlassen?
Dr. Javier Manrique: Die Hauptgründe sind:
Infolge von Hyperinflation und einem schrumpfenden Arbeitsmarkt fehlt vielen Menschen die Möglichkeit, ein stabiles Einkommen zu erwirtschaften. Dies führt zu Ernährungsunsicherheit, eingeschränktem Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und einer verschärften Sicherheitslage.
Fehlender Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Bildung oder Gesundheitsversorgung.
Unsicherheit durch reguläre und irreguläre bewaffnete Gruppen, Risiko willkürlicher Inhaftierungen sowie andere Formen von Menschenrechtsverletzungen.
HelpAge: HelpAge setzt sich besonders für ältere Menschen ein. Wie ist die Situation älterer Menschen in Venezuela heute?
Dr. Javier Manrique: Die Situation älterer Menschen in Venezuela ist äußerst prekär. Sie sehen sich zahlreichen Hürden ausgesetzt, die verhindern, dass sie ihre angeborenen und unveränderlichen Menschenrechte wahrnehmen können: Die Ineffizienz sozialer Sicherungsprogramme wie etwa das Rentensystem sorgt dafür, dass Ältere nicht über ausreichend Mittel zur Deckung ihrer grundlegenden Bedarfe wie Ernährung oder Gesundheit verfügen. Darüber hinaus bedroht der Zusammenbruch öffentlicher Dienste sowie fehlenden politischen Maßnahmen zum Schutz ihrer Rechte das Wohlergehen älterer Venezolaner*innen.

HelpAge: Viele Familien fliehen – bleiben ältere Menschen oft allein zurück oder machen sie sich auch selbst auf den Weg ins Ausland?
Dr. Javier Manrique: Ja, leider bleiben ältere Menschen oft allein zurück. Sie verfügen häufig über kein soziales Netzwerk oder Ressourcen, die ihnen helfen, mit dieser schwierigen Situation umzugehen. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich solche Schicksale erlebt habe. Eine neuere Entwicklung ist, dass ältere im Land bleiben und sich um andere Familienmitglieder, hauptsächlich ihre Enkelkinder, kümmern.
HelpAge: Was erwartet Geflüchtete nach ihrer Ankunft, zum Beispiel in Kolumbien? Sind die Gemeinden darauf vorbereitet, oder fehlt es an Unterstützung?
Dr. Javier Manrique: Wir bei Convite hören oft, dass Migrant*innen Fremdenfeindlichkeit erleben und eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und öffentlichen Dienstleistungen wie der Gesundheitsversorgung haben. Obwohl die kolumbianische Regierung relativ erfolgreich Maßnahmen ergriffen hat, um geflüchtete Venezolaner*innen in den Arbeitsmarkt zu integrieren und eine große Anzahl an NGOs und UN-Organisationen Geflüchtete unterstützt, gibt es starken Widerstand innerhalb der kolumbianischen Bevölkerung, vor allem in ländlichen Gebieten und in Vorstädten. Hier sind Geflüchtete vielen Risiken ausgesetzt wie Ausbeutung, Menschenhandel oder körperlicher oder psychischer Gewalt. Auch brasilianische Regierung hat Maßnahmen implementiert, durch die Geflüchtete monatliche Zuschüsse erhalten und bei der Suche nach Arbeit unterstützt werden. Leider wurde der Etat des Programms in diesem Jahr gekürzt, wodurch deutlich weniger Geflüchtete erreicht werden.

HelpAge: Welche Rolle spielt staatliche Hilfe? Gibt überhaupt welche? Und wo springen Organisationen wie Convite ein?
Dr. Javier Manrique: Die venezolanische Regierung unterstützt diese Menschen kaum. Im Gegenteil: Sie leugnet die Migrationskrise und behandelt Rückkehrer*innen in vielen Fällen wie Bürger*innen zweiter Klasse. Convite und HelpAge versorgen die Menschen entlang der Fluchtrouten mit Nahrungsmitteln, sauberem Trinkwasser, medizinischer und psychologischer Unterstützung und stärken ihre körperliche Sicherheit. Darüber hinaus arbeiten wir eng mit Aufnahmegemeinden in den Nachbarländern zusammen, um die Akzeptanz für Geflüchtete zu erhöhen und ihnen Zugang zu Unterkünften und dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
HelpAge: Wie unterstützt Convite geflüchteten Menschen konkret? Welche Projekte setzen Sie derzeit mit HelpAge um?
Dr. Javier Manrique: Zurzeit implementieren wir gemeinsam mit HelpAge ein Projekt, durch das Geflüchtete in fünf Aufnahmegemeinden mit warmen Mahlzeiten und Nahrungsmittelpaketen sowie sauberem Trinkwasser versorgt werden und Zugang zu medizinischer und psychosozialer Versorgung erhalten. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf älteren Menschen und Menschen mit Beeinträchtigungen. Dieser Ansatz adressiert mehrere Bedarfe dieser Bevölkerungsgruppe und trägt so dazu bei, ihre Widerstandfähigkeit und Gesundheit zu verbessern und hilft ihnen, positive Bewältigungsmechanismen für ihre Fluchterfahrungen zu entwickeln.

HelpAge: Welche Art von Hilfe wird weiterhin am dringendsten gebraucht? Und was können Menschen in Deutschland mit einer Spende bewirken?
Dr. Javier Manrique: Die meisten älteren Menschen benötigen Nahrungsmittel, Trinkwasser und medizinische Unterstützung. Dazu zählen Beratungen, Medikamente sowie Hilfstechnologien wie Gehhilfen oder Rollstühle. Psychosoziale Unterstützung hilft den Menschen, ihre Einsamkeit oder Fluchterfahrungen verarbeiten zu können.
Im weiteren Sinne sehe ich einen Bedarf an einkommensschaffenden Maßnahmen, digitaler Bildung, rechtlichem Beistand und Maßnahmen zur Verhinderung von Missbrauch und Verwahrlosung. Gerade die letztgenannten Phänomene begegnen uns leider häufig. Unterstützung der Menschen aus Deutschland speziell für diese Themengebiete könnten ein entscheidender Faktor für die Stärkung älterer Venezolaner*innen sein.
HelpAge: Wie sieht Ihr eigener Arbeitsalltag aus? Leisten Sie als Arzt direkte medizinische Hilfe oder übernehmen Sie andere Aufgaben?
Dr. Javier Manrique: Mein Arbeitstag ist straff durchstrukturiert. Im Schnitt habe ich etwa acht bis zehn Meetings. Darüber hinaus koordiniere ich drei humanitäre Projekte in drei verschiedenen Teilen des Landes. Ich beende meinen Tag in der Regel so gegen 20 Uhr. Am Wochenende versorge ich ehrenamtlich insgesamt rund 700 ältere Menschen in Caracas medizinisch und komme so auf etwa 1.000 ärztlichen Konsultationen. Unterstützt werde ich dabei von einem tollen Team aus anderen ehrenamtlichen Helfer*innen, hauptsächlich älteren Frauen. Diese Tätigkeiten sind mein Weg etwas von dem zurückzugeben, das mir im Leben geschenkt wurde.
HelpAge: Was gibt Ihnen Hoffnung und motiviert Sie, sich jeden Tag neu für Menschen in Not einzusetzen?
Dr. Javier Manrique: Meine Mitarbeiter*innen sowie die Menschen, denen wir helfen, geben mir Hoffnung und die Motivation, die ich brauche, um weiterzuarbeiten. Ihre Dankbarkeit ist Nahrung für die Seele. Jedes Mal, wenn wir einer älteren Person helfen können, zeigt dies, dass all unsere Bemühungen und Arbeit es wert sind. Jeder ältere Mensch, dem wir helfen konnten, ein Leben in Würde zu führen, bringt uns einer humaneren und gerechteren Welt ein Stück näher.. Dieser Gedanke treibt mich an.
HelpAge: Herr Dr. Manrique, vielen Dank für das Gespräch!
Ansprechperson
